Jetzt sind wir endgültig angekommen in 2021. Morgen enden die Winterferien, und jetzt spätestens hat der gewohnte Trott uns wieder. Die alten Corona-Routinen funktionieren noch. Der Lockdown ist noch einmal verlängert worden. Alles wie gehabt. Dabei sehnen wir uns danach: dass dieses Jahr anders werde als das zurückliegende.
Was waren eigentlich ihre Wünsche für 2021? Die guten Vorsätze? Das scheint ja eine uralte Sehnsucht des Menschen zu sein. Rausgehen, den Resetknopf drücken und alles auf Null stellen. Ein neues Jahr, ein neuer Anfang. Freilich, wer das wirklich will, der weiß: umsonst sind Neuanfänge nicht zu haben! Die guten Vorsätze haben oftmals kurze Halbwertszeiten. Der alte Adam lässt sich nicht ersäufen, der kann schwimmen, der schwimmt sogar noch in Alkohol! Also was soll’s mit dieser Vorstellung, so als könnten wir zu Beginn eines Kalenderjahres von Neuem anfangen?
Vielleicht ist es ja deshalb, dass ausgerechnet Johannes der Täufer einen solchen Zulauf hat – damals, ums Jahr 30 nach Christi Geburt. Was man beim Täufer zu hören bekommt – wenn man sich denn auf den Weg macht ins entlegene Jordantal – ist eben nicht die übliche Gute-Vorsätze-Predigt für den 1.1.! Kein Schmusekurs wird einem hier vorgesetzt, keine Weichspüler-Religion. Sondern die klare Ansage: Willst Du neu beginnen mit Gott, neu anfangen in deinem Leben – dann musst Du dich ändern! Und zwar von Grund auf! Sonst ist Schluss. Gott hat schon ausgeholt mit der Axt in der Hand und jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. So – wortwörtlich – wäscht der Täufer den Leuten den Kopf. Na dann Prosit Neujahr! So haben wir uns die Sache doch nicht vorgestellt.
Aber vielleicht ist ja gerade das! Das, was die Leute fasziniert an diesem schrägen Vogel, wie er da in der Wüste lebt, nur von Heuschrecken und Wildem Honig sich nährend, ein Gewand aus Kamelhaaren um den bloßen Leib. Der redet einem nicht nach dem Mund. Der sagt nicht das, wovon man denkt: das muss der Pfarrer halt sagen. Nicht dass Johannes der Täufer zu seiner Zeit ohne Konkurrenz wäre: neben ihm gibt es viele andere Gruppierungen, die gleichfalls das Heil versprechen: Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Zeloten. Und dazu die jeweiligen Splittergruppen. In diesem religiösen Treibhaus sticht Johannes heraus. Sein Erfolg, den er hat, ist erstaunlich. Da ging zu ihm hinaus die Stadt Jerusalem und ganz Judäa und alle Länder am Jordan und ließen sich taufen, notiert das Matthäusevangelium. Der Predigttext für den heutigen Sonntag knüpft daran an und führt weiter (Evangelium nach Matthäus 3,13-17):
Zu der Zeit kam Jesus aus Galiläa an den Jordan zu Johannes, dass er sich von ihm taufen ließe. Aber Johannes wehrte ihm und sprach: Ich bedarf dessen, dass ich von dir getauft werde, und du kommst zu mir? Jesus aber antwortete und sprach zu ihm: Lass es jetzt geschehen! Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Da ließ er's geschehen. Und als Jesus getauft war, stieg er alsbald herauf aus dem Wasser. Und siehe, da tat sich ihm der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren und über sich kommen. Und siehe, eine Stimme vom Himmel herab sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.
So beginnt das öffentliche Auftreten Jesu. Mit seiner Taufe. Warum ausgerechnet Johannes? Warum sucht sich Jesus ausgerechnet ihn heraus, den radikalsten Bußprediger seiner Zeit? Hätte Jesus sich nicht bei den Essenern von Qumran wohler gefühlt, jener Sondergruppe, die ebenfalls Tauch- und Reinigungsbäder praktizieren? Oder bei den bis ins Detail schrifttreuen Pharisäern? Oder als Messias des Herrn, als neuer König also – hätte er da nicht den Kontakt zu den Zeloten, den jüdischen Freiheitskämpfern suchen müssen? Oder als wahrer Hohepriester, wie ihn uns später der Hebräerbrief schildern wird, sich der Priesterkaste der Sadduzäer anschließen sollen? Wäre alles das viel nicht logischer, verständlicher gewesen? Johannes merkt es doch selbst. Indem er Jesus widerspricht. Du kommst zu mir? Du – zu mir?
Was zunächst auffällt: Jesus macht das uralte Imponiergehabe „Ich bin was Besseres“ nicht mit. Der Beginn seines Wirkens schein unspektakulär. Er trumpft nicht auf, sondern reiht sich ein. Reiht sich ein in die Menge derer, die zu Johannes in die Wüste pilgern, unterzieht sich wie diese einem Ritual, lässt sich wie diese taufen. – Der moderne Mensch mag fragen, was das soll: Du steigst in den Fluss als reichlich bekleckerter Mensch hinein und kommst als Reiner wieder heraus! Geht so Neuanfang?
Wenn’s so einfach wäre! Der Apostel Paulus wird später darauf hinweisen, dass solch eine Neuschöpfung nur durch den Tod hindurch zu haben ist, nicht durch ein paar Wassertropfen allein! Bitteschön, fragen Sie sich selbst: ist bei Ihnen etwas endgültig gestorben in der Silvesternacht? Die Sucht nach dem Glimmstengel, der Weg des geringsten Widerstandes bei dem bequemen Körper, der Hang, mich selber gut dastehen zu lassen, indem ich den anderen hässlich mache? Alles noch da, oder?!
Ja und nochmals Ja! Und genau darum geht es. In diese alte Welt, die sich auch mit dem Jahreswechsel nicht verändert hat, steigt Jesus hinein. Er stellt sich nicht abseits (wie er wohl könnte und wozu er alles Recht hätte), sondern wird Teil der Gemeinschaft der Strauchelnden und Irregeher. Das ist kein Irrtum der Geschichte und kein theologischer Ausrutscher: Jesus tritt ein in die graue Menge der Sünder. Der Schöpfer kommt zu seinen Geschöpfen. Der große Gott legt sich in eine Futterkrippe. Der Sohn beansprucht keinen Ort, an dem er sein Haupt hinlegen könnte. Die Schuldigen und Beladenen sucht er auf. Mit Dirnen und Zöllnern sitzt er zu Tisch. „Wer unter euch der Größte heißen will, der sei aller Diener“, sagt er und tut es auch: Er – der Herr! – wäscht seinen Jüngern die Füße. Er – der ohne Sünde ist – legt sich das Kreuz auf die Schulter.
Hier, am Jordan, ist das schon da. Jesu Taufe nimmt das alles vorweg. Sie ist, liebe Gemeinde (und das gilt es zu begreifen), kein Berufungserlebnis, in dem ein großer Mensch seine Mission erfährt. Sie schildert kein Erwachen und Zu-sich-Kommen eines großen Geistes. Erst recht nicht bedeutet sie, dass da einer gute Vorsätze fürs Kommende fasst. Und es geht in ihr auch nicht um die heilsgeschichtliche Rangordnung zwischen Johannes und Jesus. Nein, in Jesu Taufe geht es um einen radikalen und wunderbaren Neuanfang. Und zwar in dem Sinn, den ihr Jesus später selbst geben wird, wenn er seine Leute anweist: geht hin in alle Welt und sagt das Evangelium weiter und taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!
Die Taufe ist nichts anderes als das Evangelium in Konkretion. In ihr verdichtet und beglaubigt sich die frohe Botschaft. Taufe bedeutet – auf einen Nenner gebracht – Platzwechsel: Mensch und Gott tauschen die Plätze. „Fröhlichen Tausch“ hat Martin Luther das einmal genannt. Wenn ich meinen Konfirmanden das zu erklären versuche, was denn das ist, was da im Zentrum des Glaubens steht, gebrauche ich gern ein Bild. Ich sage: Stellt euch eine Wippe vor. Eine Wippe – der eine sitzt unten, der andere oben, der eine im Dreck, der andere in lichter Höhe. Der unten ist der Mensch, der oben ist Gott. Und nun legt Gott das entscheidende Pfund drauf, seinen Sohn – zieht den Menschen aus dem Dreck und – sitzt nun selber drin.
Jesus reiht sich ein in die graue Menge der Sünder. Das ist die frohe Botschaft, das Evangelium: Gott zieht auf seine Kosten uns aus dem Dreck. Verlässt seinen angestammten Platz, um uns zu retten. Ja, wen wundert es da, dass der Täufer das nicht versteht?! Dass er widerspricht, sich gar zu weigern untersteht: Ich bedarf dessen, dass ich von dir getauft werde, und du kommst zu mir? „Ich bedarf dessen, dass ich von dir getauft werde“ – wie kannst Du Jesus, dich denn taufen lassen? Wie kannst Du Jesus denn Sünden bekennen? Wie kannst Du Jesus dich denn vom bisherigen Leben trennen auf ein Neues hin? – Jesus entgegnet ihm: Lass es jetzt geschehen! Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Da ließ es Johannes geschehen.
In der Taufe geht es um Gerechtigkeit. Sie ist ihr Ziel. Was ist das, Gerechtigkeit? Im deutschen Sprachgebrauch hören wir beim Wort Gerechtigkeit ja immer etwas so etwas wie „Recht und Gesetz“, da schwingt etwas Juristisches mit herein. Im Judentum ist die Gerechtigkeit die Antwort des Menschen auf Gott, der Gehorsam, das vollständige Ja zum ganzen Willen Gottes. Und das nicht nur individuell verstanden, jeder für sich (das konnte die Antike noch gar nicht denken), sondern Gerechtigkeit, diesen Zustand des Friedens, kann es nur innerhalb und ausgehend von der Gemeinschaft geben.
Darum ist Jesus gekommen. Die Gerechtigkeit zu erfüllen inmitten in einer von Sünde gekennzeichneten Welt. Inmitten einer Welt, die meint, sie kommt irgendwie so durch – mit ein paar guten Vorsätzen zu Neujahr und einem Bin-ich-nur-mal-geimpft-wird-wieder-alles-wie-Vorher. Ist das Leben nicht mehr? Geht das Leben nicht tiefer? Geht es im Leben nicht um Größeres? Nicht für sich lässt Jesus sich taufen. Er selbst bedarf dessen nicht, da hat Johannes recht. Jesus lässt sich taufen für die Menschen, die fern von Gott müde und matt ihren Weg gehen. Jesus lädt Ihre Um- und Irrwege, ihre Verzweiflung und Fragen, ihre Selbstbezogenheit und Eigensucht, lädt den ganzen Schrott und Trott ihres alten Daseins auf seine Schulter – und trägt es den Jordan hinunter. Er beginnt sein öffentliches Wirken damit, dass er an den Platz der Sünder tritt. Er beginnt sein öffentliches Auftreten mit der symbolischen Vorwegnahme des Kreuzes. Er ist der wahre Jona, der zu den Schiffsleuten gesagt hatte: „Nehmt mich und werft mich ins Meer“ (Jona 1,12)
Eine letzte Beobachtung. Mit der Taufe Jesu ist der Auftrag des Johannes an sein Ende gekommen. Der asketisch lebende Prophet verschwindet alsbald von der Bühne. Die Bibel berichtet, Herodes Antipas habe ihn enthaupten lassen. Jesus nimmt Johannes gleichsam den Stab aus der Hand – und beginnt etwas Neues. Das Neue zeigt sich schon daran, dass Jesus ein ganz anderes Leben führt als Johannes. Weder seine Kleider noch seine Ernährung zeugen von Askese. Als „Fresser und Weinsäufer“ wird man ihn denn auch prompt verunglimpfen. Er sondert sich nicht ab, lebt nicht in der Wüste. Er hält sich im Land und bei den Leuten auf. Er lebt mit und unter den Menschen, zu denen er gesandt ist. Sein Leben spiegelt seinen Auftrag. Er ist gesandt zu Leuten wie uns, die ihr Leben damit ins Lot zu bringen versuchen, dass sie sich alljährlich ein paar gute Vorsätze geben und ansonsten halt gute Menschen zu sein sich mühen.
Die Taufe reicht für ein Leben und mehr. Denn so wie Jesus in seiner Taufe seinen Tod für uns vorwegnimmt, so nehmen wir in unserer Taufe unsere Auferstehung mit ihm vorweg. Da ist sie wieder – die Wippe, der Kern des Evangeliums, die Versöhnung des Menschen mit Gott. Nicht weil Gott es notwendig hätte, weil er versöhnt werden müsste. Vielmehr weil der Mensch es braucht, weil wir es sind, die im Dreck sitzen. Gott will uns bei sich haben – in lichten Höhen. Gott will leben – mit uns. Mit dir, mit mir. Auch in diesem neuen Jahr.