Evang. Kirchengemeinde
Markus-Haigst
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Das Stuttgarter Schuldbekenntnis

Am Abend des 17. Oktober 1945 gelangte die Markuskirche zu weltweit kirchlicher Bedeutung. Der Ende 1945 in Treysa gebildete Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), ein Gremium von zwölf einflußreichen Kirchenführern und Laien, war zu seiner ersten ordentlichen Sitzung nach Stuttgart einberufen worden. Vorsitzender dieses Rates der EKD war der 76-jährige Theophil Wurm, der wegen seines mutigen Eintretens für das Recht und den Auftrag der Kirche während des Dritten Reiches weithin hohes Ansehen genoß.

Als Beginn der Sitzung war Donnerstag, der 18. Oktober 1945, 9 Uhr festgesetzt; Tagungsort war der kleine Sitzungssaal der Württ. Bibelanstalt in der Hauptstätterstraße 51 B. Aus Anlaß dieser ersten Sitzung des Rates der EKD wurden am Vorabend im Saal des Furtbachhauses und in der Markuskirche um 19.30 Uhr zwei Parallelversammlungen gottesdienstlicher Art anberaumt. Die Abendfeier in der Markuskirche wurde von Landesbischof Wurm geleitet, die Feier im Furtbachhaus von Prälat Dr. Hartenstein. Als Prediger bzw. Redner waren an diesen Feiern außerdem Dr. Otto Dibelius, der Bischof von Berlin, und der aus dem Konzentrationslager befreite Pastor Martin Niemöller beteiligt. Pastor Niemöller war erst gegen 18.30 Uhr in Stuttgart eingetroffen. Bei seiner Ankunft in der Wohnung des Stadtdekans Lempp wurde ihm mitgeteilt, daß er in der Markuskirche sprechen solle. Seine Frau suchte ihm den Predigttext aus. Die aus dem Stegreif gehaltene Predigt Niemöllers brachte Herz und Gewissen der großen Hörerschaft in Bewegung. Sie wirkte so tief, daß am Tage darauf in der Mitte des Rates der EKD das Stuttgarter Schuldbekenntnis entstehen konnte.

In diesem Abendgottesdienst am 17. Oktober 1945 in der Markuskirche trafen zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg die Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland mit Vertretern der Kirchen der Ökumene zusammen. Diese Begegnung war deutscherseits weder geplant noch vorbereitet gewesen. Der Anstoß kam von der Ökumene. Daß deren Schritt nun aber sogleich zu einem deutlichen Wort der Umkehr, zum Stuttgarter Schuldbekenntnis, führte -dies war eine Frucht jenes Abends in der Markuskirche. Kirchengeschichtlich gesehen war das die größte Stunde in unserer Markuskirche.

Der Leiter der ökumenischen Delegation, Dr. Willem A. Visser’t Hooft schreibt in seiner Biographie: “Wie sollten wir die Wiederaufnahme voller ökumenischer Beziehungen erreichen? Die Hindernisse für eine neue Gemeinschaft ließen sich nur beseitigen, wenn die deutsche Seite ein klares Wort fand. Pierre Maury riet uns schließlich, den Deutschen zu sagen: ‚Wir sind gekommen, um Euch zu bitten, daß Ihr uns helft, Euch zu helfen.’ Als wir in dem großenteils zerstörten Stuttgart ankamen, hörten wir, daß am Abend in der Markuskirche ein besonderer Gottesdienst stattfinden würde, bei dem Bischof Wurm, Pastor Niemöller und Bischof Dibelius sprechen sollten. Niemöller predigte über Jeremia 14, 7-11: ,Ach Herr, unsere Missetaten haben es ja verdient; aber hilf doch um deines Namens willen!’ Es war eine machtvolle Predigt. Niemöller sagte, es genüge nicht, den Nazis die Schuld zu geben, auch die Kirche müsse ihre Schuld bekennen.”

Wie tief jene Abendpredigt Pastor Niemöllers wirkte, geht auch aus einem Bericht der Stuttgarter Zeitung vom 20. Oktober 1945 hervor. Darin heißt es unter anderem: “Das Nichtstun, das Nichtreden, das Nicht-Verantwortlich-Fühlen, das ist die Schuld des Christentums.”

Als Frucht dieses Abendgottesdienstes entstand das Stuttgarter Schuldbekenntnis, das am Vormittag des 19.Oktober 1945 vor den Vertretern der Ökumene abgelegt und ihnen übergeben wurde. Schauplatz der Übergabe war (wahrscheinlich) das Haus Eugenstraße 22, das damals der Stiftskirchengemeinde zur Verfügung stand. Die Behauptung, das Stuttgarter Schuldbekenntnis sei in der Markuskirche, vor den Augen und Ohren der Gemeinde, übergeben worden, ist eine Legende.

Die Kirchenleitung hat es versäumt, das Schuldbekenntnis sofort in allen Gemeinden des Landes, von allen Kanzeln herab, bekannt zu machen. Erst allmählich und spät kam es ins Bewußtsein der Gemeinden. In der Markuskirche ist eine Gedenktafel mit dem vollen Wortlaut des Stuttgarter Schuldbekenntnisses vom 19. Oktober 1945 angebracht.

Wortlaut des Schuldbekenntnisses

Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft und der Nullpunktsituation des Kriegsendes wurde als Neuanfang im August 1945 bei der Kirchenversammlung in Treysa (Hessen) der Zusammenschluß der "Evangelischen Kirche in Deutschland" beschlossen. Die Stuttgarter Schulderklärung vom Oktober 1945 ermöglichte weitere Schritte des Aufbaus. Sie suchte ungelöste Fragen der unmittelbaren Vergangenheit anzusprechen und den Zugang zur weltweiten Ökumene zu öffnen.

Unterschriften :

D. Wurm (Württ. Landesbischof) Asmussen DD (Präsident der Kirchenkanzlei der EKD) H. Meiser (Landesbischof Bayern) Held (Pfarrer in Essen, später Präses der Rhein. Kirche) Dr. Lilje (Generalsekretär des Lutherischen Weltkonvents, später Landesbischof in Hannover) Hahn (Pfarrer, später sächs. Landesbischof) Lic. Niesel (Pfarrer, Theologieprofessor) Smend D.Dr. (Theologieprofessor) Dr. G. Heinemann (Rechtsanwalt, später Bundespolitiker und Bundespräsident) Dibelius (Bischof von Berlin-Brandenburg) Martin Niemöller D.D. (Pfarrer, später Kirchenpräsident von Hessen-Nassau)

Martin Niemöller zum Gedenken

von Pfarrer Dr. Tilo Knapp

Es ist der 17. Oktober 1945, die Stadt und mit ihr die Kirchen liegen in Trümmern. Am folgenden Tag will sich der Rat der Evangelischen Kirche in Stuttgart zu seiner ersten ordentlichen Sitzung unter Leitung des Württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm treffen. Erstmals nach der Weltkriegskatastrophe sind hochrangige Vertreter der evangelischen Ökumene aus den USA, den Niederlanden, Frankreich und der Schweiz zu einem Besuch in Deutschland angekündigt. An jenem Herbstabend treffen diese beiden Gruppen in der Markuskirche bei einer Abendfeier und einem Gottesdienst zusammen. Ausgewählt hat man die Markuskirche, weil sie anders als die anderen großen Kirchen Stuttgarts nur leicht beschädigt worden und bereits im Oktober wieder nutzbar war.

Schon seit Sommer 1945 ist in der evangelischen Kirche eine Debatte über die eigene Rolle im Nationalsozialismus im Gange, in der die Positionen teils hart aufeinandertreffen. Klar ist: die ökumenischen Glaubensbrüder sind zu einer Versöhnung bereit, unter der Voraussetzung eines wie immer gearteten Schuldeingeständnisses. In dieser Atmosphäre hält Martin Niemöller am 17. Oktober seine später berühmt gewordene Predigt über den Propheten Jeremia. Wesentlich durch diese Predigt und Niemöllers Engagement in der Sache wird am Tag darauf die Stuttgarter Schulderklärung veröffentlicht.

Sieht man sich Bilder von ihm an, fällt das markante Profil auf. Sein Kinn ist scharf geschnitten. Es fallen seine großen Ohren auf und – später – die große Hornbrille. Der Blick ist selbstbewusst. Niemöller ist ein Charismatiker, der kraft persönlicher Autorität zu überzeugen, einer, der große Kirchen und Hallen zu füllen und die Leute mit seinen Predigten zu packen vermag. Ricarda Huch notiert bereits in den 1930er Jahren: Ein „asketisches, dunkles, sehr anziehendes Gesicht“.

Das sind die freundlichen Beschreibungen für Martin Niemöller. Doch hat er keine Scheu, Menschen anderer Gesinnung vor den Kopf zu stoßen, wenn er von einer Sache überzeugt ist. Der damalige Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß zeigt ihn wegen Verleumdung der Bundeswehr an. Niemöller hört auch in der Nachkriegszeit nicht auf, seinen Zeitgenossen moralisch auf den Nerv zu gehen. Er ist strikt gegen die Wiederbewaffnung. Die Atombombe stellt für ihn eine Sünde und Gotteslästerung dar, weil mit dieser Waffe der Mensch die ganze Menschheit auslöschen kann. In diesem Kontext nennt Niemöller die Ausbildung zum Soldaten einmal „die Hohe Schule für Berufsverbrecher“. So macht man sich nicht nur Freunde.

Wie auch immer aber man sich zu ihm stellt, auch seine Gegner geben zu: der Mann hat Prinzipien. Ohne sie wäre er das nicht geworden, als was wir ihn heute erinnern: als einen Widerstandkämpfer und Pazifisten, einen mit einem klaren inneren Kompass. Dass dieser Kompass im Laufe seines Lebens so unbeirrt auf Widerstand und Pazifismus wies, war ihm jedoch nicht in die Wiege gelegt. Martin Niemöller ist innerlich einen weiten Weg gegangen.

Geboren wird er am 14. Januar 1892 im westfälischen Lippstadt. Die Niemöllers verstehen sich als Preußen, konservativ und kaisertreu. Der junge Martin kann es nach dem Abitur nicht erwarten, seiner soldatischen Pflicht nachzukommen. Damals gilt die Losung: „Ein guter Christ ist immer zugleich ein guter Soldat.“ Daran zweifelt auch Niemöller nicht. Mit Leib und Seele ist er U-Boot-Kommandant. Nur einmal in den Jahren des Ersten Weltkriegs kommt er ins Grübeln. Sein U-Boot hat ein feindliches Schiff versenkt. Die Matrosen treiben im Meer. Die Deutschen verhindern, dass ein anderes französisches Schiff die Ertrinkenden rettet. Die könnten ja hinterher wieder auf unsere Leute schießen. Im Nachhinein schreibt Niemöller: „Mit einem Mal wussten wir (…) um die Tragik der Schuld, der zu entgehen der einzelne kleine Mensch einfach zu schwach und zu hilflos ist.“ Rebellion leistet sich der pflichtbewusste Marineoffizier nur aus Patriotismus. 1919 soll er sein U-Boot an die britische Marine ausliefern. Er weigert sich, wird ungehorsam aus Gehorsam, indem er einem Befehl widerspricht, weil er sich etwas Anderem, Höherem verpflichtet fühlt, damals noch dem Vaterland.

Wie auch immer, der Traum vom Marineleben ist ausgeträumt. Nun will der 27-Jährige Bauer werden. Die Inflation macht einen Strich durch die Rechnung. Niemöller studiert Theologie und wird Pfarrer – wie sein Vater. 1931 ist er Gemeindepfarrer in Berlin-Dahlem. Pfarrer zu werden bedeutet keinen Bruch. Niemöller wollte ein treuer Soldat sein. Jetzt dient er treu dem Evangelium. Und eben diese Treue bringt ihn in den Widerstand gegen Hitler. 1933 wählt er noch die Nationalsozialisten. Doch dann will der NS-Staat auch die Kirchen gleichschalten, der Arierparagraph soll in der Kirche eingeführt werden. Das bedeutet: Christen jüdischer Herkunft dürfen keine Pfarrer mehr sein und sollen aus der Kirche herausgedrängt werden. Dagegen protestiert Martin Niemöller und gründet den Pfarrernotbund, der sich später zur Bekennenden Kirche entwickeln wird. Bekannt sind seine Sätze, die er am 25. Januar 1934 Adolf Hitler gegenüber äußert. Der hat eine Gruppe von leitenden Kirchenvertretern, darunter Niemöller ist als einziger Gemeindepfarrer, empfangen. Hitler verkündet sinngemäß: „Die Sorge um das Dritte Reich überlassen Sie mir. Kümmern Sie sich um die Kirche!“ Beim Abschied wendet sich Niemöller Hitler zu: „Die Verantwortung fürs deutsche Volk, die können wir nicht weggenommen bekommen, die hat Gott uns auferlegt, und kein anderer als Gott kann die von uns wegnehmen, auch Sie nicht.“

Es ist ein weiter Weg, den Niemöller zurücklegt. Vom Offizier, der die Obrigkeit für gottgegeben hält, zu dem Pfarrer, der Hitler persönlich widerspricht. Hitler, offenbar narzisstisch gekränkt, merkt sich den Widerspruch. „Der Pfaffe soll sitzen, bis er schwarz wird!“ Niemöller bekommt Predigtverbot und wird schlussendlich ins Konzentrationslager abgeholt, als Hitlers „persönlicher Gefangener. Acht Jahre lang ist seine Frau Else mit sieben Kindern allein im Dahlemer Pfarrhaus und bangt um ihren Mann. Die Alliierten befreien ihn 1945.

Niemöller könnte sich jetzt rühmen, im Widerstand für die richtige Sache Partei ergriffen zu haben. Sein Schicksal und seine aufrechte Haltung sind auch im Ausland bekannt. Innerkirchlich versucht man aus diesem Grund, Niemöller über sein Amt als Leiter des Außenamts der neuen EKD als eine Art „Außenminister“ zu installieren, der für gute Kontakte zu den benachbarten Staaten und ökumenischen Partnern sorgt. Doch ausgerechnet er wird ein wesentlicher Antreiber, dass sich die deutsche Kirche zu ihrer Schuld bekennen müsse. Niemöller unterschreibt mit anderen das Stuttgarter Schuldbekenntnis. Darin finden sich Formulierungen, die wesentlich auf ihn zurückgehen: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. (…) Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Als sich im Oktober 2020 das Schuldbekenntnis zum 75mal jährte, wurde – u.a. in der Zeitschrift „Zeitzeichen“ – die schon früher geäußerte Kritik wieder laut: das wäre zu allgemein und damit ein schwaches Schuldbekenntnis. Der Holocaust komme explizit nicht vor. Das ist richtig. Für viele Deutsche unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ist das aber bereits viel zu viel. Im Hungerwinter 1945/1946 sagt Niemöller in einem Vortrag: „Es gibt viel Jammer über unser Elend, über unseren Hunger, aber ich habe in Deutschland noch nicht einen Mann sein Bedauern aussprechen hören (…) über das furchtbare Leid, das wir, wir Deutsche, über andere Völker gebracht haben, über das, was in Polen passierte, über die Entvölkerung von Russland und über die 5,6 Millionen tote Juden!“ Im Publikum Buhrufe, Scharren, Zwischenrufe „Und die Schuld der anderen?“ Doch Niemöller lässt sich nicht beirren und setzt nach: „Das steht auf unseres Volkes Schuldkonto.“ Ich denke, dass gerade die offene Formulierung der Schulderklärung ihre Stärke ist.

Was Niemöller selbst angeht, so besteht seine Kritik den Test der Selbstanwendung. Er überprüft die eigene Entwicklung im Licht der gewonnenen Einsicht. Öffentlich geht er mit sich ins Gericht und bekennt, dass sein Widerstand gegen die Nazis erst begonnen habe, als es um seine eigene Kirche ging. Was Hitler den anderen angetan habe, habe er realisiert, als es ihm selbst an den Kragen ging. Berühmt wiederum seine Worte: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; Ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; Ich war ja kein Sozialdemokrat: Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ (Ostern 1976) Niemöller bekennt sogar, früher selber antisemitisch geprägt gewesen zu sein. Juden seien ihm unsympathisch gewesen. Sein Protest habe sich am Anfang nur gegen die Eingriffe des NS-Staates in kirchliche Belange gerichtet. Erst sehr viel später sei ihm aufgegangen, „dass ich als Christ nicht nach meinen Sympathien oder Antipathien mich zu verhalten habe, sondern dass ich in jedem Menschen, und wenn er mir noch so unsympathisch ist, den Menschenbruder zu sehen habe, für den Jesus Christus an seinem Kreuz gehangen hat genauso wie für mich, was jede Ablehnung und jedes Antiverhalten gegen eine Gruppe von Menschen irgendeiner Rasse, irgendeiner Religion, irgendeiner Hautfarbe einfach ausschließt.“ (Interview mit Günter Gaus, rbb, 1963)

Noch einmal kehrt Martin Niemöller in die Markuskirche zurück. Die Predigt, die er am 4. März 1979 hält, wird, anders als die Predigt von Oktober 1945, gründlich mitstenografiert. Sie findet sich heute in den pfarramtlichen Akten der Markus-Haigst-Kirchengemeinde. Ob dieses Dokument anderweitig veröffentlich ist, ist mir nicht bekannt. In seiner lebendigen Schilderung gibt Niemöller einen erhellenden Einblick in die Lage der evangelischen Kirche in Deutschland in den Monaten nach Kriegsende 1945.

HIER finden Sie die Abschrift der Predigt vom 4. März 1979.